Schillers Vorstellung einer schönen Seele

6. Mai 2025

Darstellung des Themas

Im Rahmen des Deutschunterrichts haben wir das Theaterstück Maria Stuart von Friedrich Schiller gelesen. Zuerst haben wir – wie immer bei der Besprechung von Büchern – eine Textsicherung durchgeführt. Unklarheiten und sonstige unverständliche Stellen wurden gemeinsam angeschaut und besprochen. Etwa zeitgleich behandelten wir die Weimarer Klassik, die Zeitepoche, in der das Werk geschrieben wurde.

Die Weimarer Klassik ist eine literarische und geistige Bewegung bzw. Epoche, die von 1786 bis 1832 andauerte und massgeblich von J. W. Goethe und F. Schiller geprägt wurde. Die Weimarer Klassik stellt eine bewusste Antwort auf die politischen und sozialen Umwälzungen der Zeit dar, insbesondere auf die Französische Revolution von 1789. Enttäuscht über deren gewaltsamen Verlauf und die damit verbundene Radikalisierung wenden sich Goethe und Schiller von der rebellischen Haltung des Sturm und Drang ab und streben stattdessen nach einem Ideal der Ausgewogenheit (Harmonie, Menschlichkeit …) und geistigen Erneuerung.

Maria Stuart ist ein klassisches Theaterstück in fünf Akten nach aristotelischen Regeln. Maria Stuart (die ehemalige Königin von Schottland) befindet sich in englischer Gefangenschaft, da sie Anspruch auf den Thron erhebt und Elisabeth I. ihre Macht bedroht sieht. Maria, die sich bis dahin mit der Gefangenschaft und dem Verlust des Throns abgefunden hatte, ja ihr Leben in Frieden lebte, wird durch den katholischen Fanatismus Mortimers angestachelt, die englische Krone an sich zu reissen. Zum letzten Mal erwacht die Königin in ihr. Am Ende wird sie angeklagt und stirbt als schöne Seele, während Elisabeth verlassen und einsam zurückbleibt.


Weiterentwicklung des Themas

Ein zentraler Begriff der Philosophie bzw. Ideologie Schillers ist der der schönen Seele.
„Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, dass es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es.“¹

Ein Mensch hat also dann eine schöne Seele, wenn er seinen Affekten, Emotionen und Trieben freien Lauf lassen kann – also nicht durch gesellschaftliche Normen begrenzt ist – und trotzdem gut handelt. Denn seine einzelnen Handlungen sind nicht gut oder sittlich, „sondern der ganze Charakter ist es“. Vereinfacht lässt sich sagen, dass bei einer schönen Seele Pflicht und Neigung in Harmonie sind.

Am Anfang des ersten Aktes hat sich Maria mit ihrem Schicksal abgefunden. Sie nimmt die Gefangenschaft und den verlorenen Thron an. Die Situation scheint Maria äusserlich zu demütigen, doch innerlich bewahrt sie Würde und Haltung. So ist Maria nicht einmal erzürnt, als ihr der Kronschmuck genommen wird. Sie beklagt sich nicht trotzig oder rebellisch über ihr Schicksal, sondern zeigt eine gefasste Haltung. Dies ist der erste Hinweis auf eine schöne Seele im Sinne Schillers: Maria befindet sich in einer extremen Lebenslage – politisch entmachtet, isoliert, in einer feindlichen Umgebung – und dennoch handelt sie nicht aus dem Affekt (Rache, Hass …). Ihre Empfindungen und Affekte sind vorhanden, aber sie überlässt ihnen nicht unkontrolliert das Steuer.

Doch dann tritt Mortimer in ihr ruhiges Leben im Gefängnis. Der junge Mortimer, der in Marias Schönheit verliebt ist, gibt sich bereit, alles zu geben, um den in Italien aufgeschnappten Katholizismus auch in England wieder einzuführen. Er will Maria befreien und als rechtmässige Königin wieder auf den Thron bringen. Maria, die sich zuvor mit der Gefangenschaft und dem verlorenen Thron abgefunden hatte – ja ihr Leben in Frieden lebte –, wird durch Mortimers katholisch geprägten Fanatismus angestachelt, die englische Krone zu übernehmen. Ihre schöne Seele verliert Maria hier für eine gewisse Zeit, da ihre machtsüchtigen, königlichen Triebe die Oberhand gewinnen und somit die Harmonie aus den Fugen gerät.

Doch gegen Ende (5. Akt), als Maria hingerichtet wird, ist sie wieder im Besitz der schönen Seele. Denn Marias ungerechtes Todesurteil, das in Schillers Drama politisch und religiös motiviert ist, nimmt sie mit stoischer Gelassenheit an. Sie stirbt als Märtyrerin im roten Gewand. Maria handelt gut, ohne dass sie sich mässigen muss. Maria stirbt als schöne Seele.